Pressetext zur 9. Ausstellung des Kunstraums „Einsicht frei“
Anita Brendgens "Schwebende Erinnerung"
Mit ihren außergewöhnlichen Skulpturen macht Brendgens sichtbar, was uns sonst als un-sichtbar gilt. Ihre Werke „schwebender Erinnerung“ visualisieren nicht wie oft üblich Gegenstände der Erinnerung. Sie visualisieren das Phänomen des Erinnerns an sich.
Es heißt, der Mensch ist ein „Augentier“. Denn zumindest in unserer hiesigen Kultur erhalten wir bis zu 80% aller Informationen über den Sehsinn, um unsere Umwelt möglichst gut erkennen – und uns auf unserem persönlichen Lebensweg – möglichst gut zurechtfinden zu können.
So ist nicht verwunderlich, dass auch die Sicht auf unser gegenwärtiges Denken und Handeln maßgeblich von den Schwingungen und Resonanzen unserer inneren Bilder der Erinnerungen bestimmt wird. Wir daher durchaus von der naturbedingten Dominanz der Dinghaftigkeit bezüglich unseres Erinnerungsvermögens sprechen können.
Unsere Erinnerungen verstanden als die mentalen Erbstücke unserer einstigen Erfahrungen. Hiermit verbinden sich Intention und Kernthema von Brendgens Werken.
Wenn im Alltag von „Papieren“ die Rede ist, verbinden sich erste spontane Assoziationen meist mit „Ihre Papiere, bitte“, also dem Vorzeigen des Personalausweises, des Kfz-Briefs oder – wie vor einigen Jahren – dem aktuellen Impfstatus, mit dem bürokratischen Ausfüllen von Anmeldeformularen oder auch mit dem lästigen Papier-“Kram“, der für die längst überfälligen Abgabe der Steuererklärung zu bewältigen ist. Allesamt Beispiele, die klar festgelegte Definitionen zur Legitimation des Seins beschreiben.
Ganz anders verhält es sich mit den Papieren, denen wir in den Arbeiten von Anita Brendgens begegnen dürfen. Brendgens Papiere beinhalten keinerlei vorgeschriebene Definition der Dinge. Anders als sonst gewohnt vermeidet ihr skulpturales Werk jegliche Art von vorgefertigter Interpretation der Dinge, und somit jede festgeschriebene Dokumentation des Seins selbst.
Vielmehr macht uns Brendgens mit ihren Skulpturen sichtbar, was uns sonst un-sichtbar bleibt. Denn ihre Skulpturen „schwebender Erinnerungen“ – wie sie selbst formuliert –, thematisieren nicht die Dinge der Erinnerung, sondern weisen uns hin auf das Phänomen des Erinnerns selbst.
Folglich ist es auch nicht der Gegenstand selbst, der in ihrem Werk Darstellung findet, sondern die Vorstellung von der Energie seiner Erinnerungs-Aura, die hier in Form skulpturaler Ummantelungen ihre Darstellung vom Sein der Erinnerung findet, dank Brendgens die sichtbare Präsenz des An- wie Bedenkens unseres Gedenkens der Erbstücke unserer Vergangenheit findet.
Ein Hinweis auf welche Art und Weise wir Brendgens Einladung verstanden wissen könnten, weist uns die Materialität und Machart ihrer Skulpturen hin: adäquat zu den sehr persönlich einwirkenden und damit auch durchaus fragilen Aspekten ihres skulpturalen Angebots der Erinnerungskultur, finden hier keine feste Materialien wie Gips oder Metall Verwendung.
Für ihre meist fraktal, teilweise gänzlich umschließenden, stets zart anmutenden Ummantelungen verwendet Brendgens ausschließlich von ihr selbst handgeschöpfte Papiere. Ein durchaus sinnlich meditativer Akt, der über ein rein handwerkliches Agieren hinausgeht und daher in seiner Bedeutsamkeit eigentlich als eine ihren Werken zugehörige Performance angesehen werden könnte, aber bis heute – man darf sagen leider – noch nicht filmisch dokumentiert ist.
Auch die Farbgebung ihrer Ummantelungen ist von Bedeutung: Brendgens verbindet mit der Farbe Weiß gedanklich das Thema „Reinheit“, die sowohl verstanden werden kann als Symbol gänzlich un-voreingenommer Offenheit als auch – im Sinn westlich geprägter Religiösität – als Zustand eines reinen Seelig-Seins, frei aller weltlichen Begehrlichkeiten.
In dieser Hinsicht transformieren ihre Werke schwebender Ummantelung der Erinnerung den Moment erinnerter Vergangenheit in unser Hier und Jetzt – zur Einsicht in die schwebende Seele unseres Gedenkens.
Wer darüber hinaus wagt, Brendgens skulpturale Einladungen zu den Gedanken-Schwingungen seiner ganz persönlichen Erinnerungskultur auf unser gesellschaftliches Leben zu übertragen, vermag in Brendgens Arbeiten auch einen politische Aspekt zu erkennen.
Denn An– und Ge– ebenso wie Be–denken sind schließlich auch die grundsätzlich erwünschten Dynamiken unseres auf den Konsens zielenden, demokratischen Systems.